Gehst du nach dem Coronavirus zur Arbeit, wenn du dich unwohl fühlst?

RiskArticle30. Oktober 2020

Zurich Insurance Group (Zurich) und VICE schauen sich an, wie der Coronavirus die Präsenzkultur vernichtet.

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Wie oft bist du aufgewacht und hast dich ausgelaugt gefühlt? Doch anstatt dich krankzumelden, hast du ein paar Medikamente geschluckt und dich in die Arbeit geschleppt? Hast du schon mal das Gefühl auf der Arbeit gehabt, dass du krank wirst? Doch anstatt nach Hause zu gehen, hast du weitergearbeitet, weil dein Chef es nicht gerne sieht, wenn du gehst?

Falls dir eines der oben genannten Szenarien bekannt vorkommt, gibt es sogar ein Wort dafür: Präsenzkultur. 90 % der Befragten einer Umfrage des Chartered Institute of Personnel and Development in Grossbritannien gaben an, dass sie so etwas an ihrem Arbeitsplatz bereits gesehen haben. Schätzungen zufolge kosten verlorene Produktivität und unnötige Krankheitstage der Wirtschaft jedes Jahr Milliarden.

Die Präsenzkultur kann sich negativ auf unsere Leben auswirken – und das nicht nur auf der Arbeit. Gordon Clark, Professor an der Oxford University sagt gegenüber VICE: “Die Präsenzkultur repräsentiert im Grunde das Phänomen, dass Menschen erwarten, dass sie in der Arbeit sein müssen, egal was passiert. Infolgedessen gehen sie Kompromisse hinsichtlich ihres Familienlebens, der Kinderbetreuung und ihrer eigenen physischen und psychischen Gesundheit ein.”

Das liegt nicht nur daran, dass die Kollegen denken, dass du performen musst. “In einigen Unternehmen gibt es Bewertungssysteme, wie oft Angestellte tatsächlich anwesend sind, was das Ganze noch verstärkt. Beide Seiten sehen die Arbeitsmoral als Ausdruck der Präsenzkultur – und das ist das Problem”, fügt Clark hinzu.

Wenn wir angeschlagen in der Arbeit erscheinen, kann das für alle schlecht ausgehen. Wie oft ist es schon passiert, dass jemand krank ins Büro gekommen ist und innerhalb der nächsten Wochen mehrere Kollegen angesteckt hat? Andrea Steer, Senior Risk Consultant bei der Zurich UK sagt gegenüber VICE: “Wir wissen oft nichts über die Empfindlichkeit unserer Kollegen, wer Atemprobleme und wer ein schlechtes Immunsystem hat. Oft sind diese Angelegenheiten so persönlich, dass Geschäftsführer nichts davon wissen. Was bedeutet es für deine Mitmenschen, wenn du mit Grippe- oder sogar Corona-Symptomen ins Büro gehst?”

Die gute Nachricht ist, dass sich daran etwas verändern könnte. Es findet gerade ein kultureller Wandel an Arbeitsplätzen statt, der durch den Coronavirus beschleunigt wird. Die zu Beginn der Pandemie eingeführten Lockdown-Massnahmen umfassten, dass jeder, der von zu Hause aus arbeiten könnte, das auch tun sollte. Büros wurden leergefegt und hektische Grossstädte zu Geisterstädte.

Die gesellschaftlichen Erwartungen, die uns einst in die Arbeit geschleift haben, wenn wir krank waren, wurden auf den Kopf gestellt. Von uns wird jetzt erwartet, entweder fernzubleiben oder wenn möglich im Homeoffice zu sein. Dr. Stefan Kroepfl, Head of Strategy im Bereich Global Life bei der Zurich Insurance Group (Zurich) sagt gegenüber VICE: “Ich sehe durch den Coronavirus eine Veränderung. Wenn den Leuten gesagt wird, dass sie nicht im Büro sein müssen, gibt es viel weniger Druck vonseiten des Arbeitgebers und der Kollegen, richtig? Es geht hier einzig und allein um die Wahrnehmung.”

Diese Veränderung in der Wahrnehmung wird von Vorgesetzten vorangetrieben, die ihren Mitarbeitern mehr vertrauen. “Direkte Vorgesetzte überwachen ihre Mitarbeiter nicht mehr in Person, deswegen musst du ihnen vertrauen, sonst wird es sehr schwer”, sagt Kroepfl. “Nach meinen Erfahrungen ist Vertrauen ein verstärkender Mechanismus: Angestellte, denen man vertraut, fühlen sich empowert und wollen dieses Vertrauen zurückgeben.”

Einer der Gründe für diesen kulturellen Wandel ist der sich verändernde Gedanke, warum wir arbeiten. “Es geht darum, die Arbeit zu erledigen, nicht darum wie viel Zeit wir in der Arbeit verbringen.”

Wir brauchen Arbeitgeber, die das Wohlbefinden in den Vordergrund ihres Unternehmens stellen. “Die Einstellungen von Arbeitgebern und Unternehmen müssen sich ändern”, sagt Steer von der Zurich. “Das gesamte Wohlbefinden und die Produktivität der Menschen bei der Arbeit sind von wesentlicher Bedeutung.”

Während die Präsenzkultur in den Seilen hängt, gibt es Anzeichen dafür, dass sie ein Comeback erlebt, wenn wir nicht aufpassen, und unser Wohlbefinden nicht vor die Wahrnehmung anderer stellen.

“Die Präsenzkultur hat eine neue Form angenommen”, sagt Nadia Younes, Global Head of Employee Experience, Diversity and Wellbeing bei der Zurich Insurance Group (Zurich). “Es gibt eine digitale Form der Präsenzkultur, mit deren Mentalität wir brechen müssen. Menschen sollen sich nicht mehr so fühlen, als müssen sie immer gesehen werden, wenn sie arbeiten.”

Younes fügt abschliessend hinzu: “Es gibt eine neue Art Stress, der mit [dem Homeoffice] einhergeht. Wir müssen wirklich anfangen, unsere Mentalität, Gewohnheiten und unser Verhalten zu verändern. Die Präsenzkultur muss eines natürlichen Todes sterben, und das muss sie wirklich. Angestellte wollten das schon seit Jahrzehnten und Organisationen haben es meist vergeblich versucht. Es ist an der Zeit, es mit Absicht zu tun, sonst laufen wir Gefahr, die Präsenzkultur lediglich mit einer neuen digitalen Form zu ersetzen, bei der man den Druck verspürt, immer verfügbar zu sein.”